Projektionen in der Partnerschaft
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Es ist Paradox. Gegensätze ziehen sich an. Polarität hält die Welt zusammen. Diesen Spruch hat wohl jeder von uns schon einmal gehört, doch wie viel Wahrheit steckt eigentlich darin? Stimmt es, dass wir im jeweils anderen den inneren Gegenpol suchen, um selbst vollkommen zu sein? Sucht der Ungeduldige den geduldigen Partner, um mehr Gelassenheit in sein Leben zu bringen, und vereint sich der Jähzornige mit dem sanftmütigen Gegenpol?
Tatsächlich wählen Menschen oft ihren Beziehungspartner unbewusst nach Eigenschaften aus, die sie selbst nicht besitzen – im positiven wie im negativen Sinne. So schließt sich eben der Sanftmütige mit dem Jähzornigen zusammen. Gleichzeitig entsteht dadurch ein Paradox. Zunächst sehen wir im anderen die perfekte Ergänzung zu uns selbst. Er oder sie besitzt alle Eigenschaften, die uns selbst vermeintlich fehlen. Doch nachdem die anfängliche Verliebtheitsphase abgeschlossen ist, beginnt ein Prozess der Ablehnung. Das, was am Anfang anziehend war, wirkt dann störend. Wir stellen fest, dass der Andere nicht der Gegenpol in Perfektion ist, sondern ebenso Eigenschaften besitzt, die uns stören. In den meisten Fällen sind das aber genau die Punkte, die wir im anderen gesucht haben, um unsere eigenen, vermeintlichen Defizite auszugleichen. Diese Beziehungsphase trägt in der Psychologie den Namen „Projektion“. Jetzt kommt es darauf an, ob die Partner diese Phase für sich als Paar lösen oder ob sie daran zerbrechen.
Das Thema der jeweiligen Eigenschaften, die uns zunächst anziehen, dann plötzlich befremdlich wirken, ist nur eines von vielen Aspekten der Anziehungskraft. Lesen Sie hierzu das Kapitel „Partnerschaftswahl“. Aber zurück zur Projektion.
Ungelöste Projektion als dauerhaftes Defizit für neue Partnerschaften
Kommt nicht zur Lösung der Projektion, sondern zur Trennung, bleibt die Problematik weiterhin bestehen. Denn auch in der nächsten Partnerschaft wird der Beziehungspartner unbewusst nach denselben Eigenschaften ausgewählt, und der Kreislauf beginnt von vorn. Die Partnersuche wird weiterhin von dem Versuch getrieben, alle „fehlenden“ Persönlichkeitsanteile in einem selbst zu verwirklichen, indem der Partner sie mitbringt und das eigene Selbst dadurch vervollständigt. Dieser Kreislauf kann sich über eine lange Zeit und viele Partnerschaften hinziehen, bis kein Gegenüber mehr gebraucht wird, um sich selbst vollkommen zu fühlen.
Einer der vielen Grundpfeiler für eine dauerhafte glückliche Liebesbeziehung mit Bindung ist, den anderen zu akzeptieren, wie er ist, wie er sein will. Wenn hier keine positive Toleranz für das Anderssein entsteht, wird es schwierig. Halten Sie sich Folgendes vor Augen und machen Sie es sich bewusst:
- Alles, was mich am Anderen stört oder erfreut, hat etwas mit mir selbst zu tun.
- Wenn Sie einen Partner ändern wollen, wird er sich nicht ändern.
- Sie können einen Partner nicht ändern, wenn er sich nicht ändern will. Sie können es lediglich akzeptieren (positive Ignoranz) oder gehen.
Das Streben nach einer dauerhaften Anfangsphase
Ein weiteres Paradox der Liebe besteht darin, dass in den meisten Partnerschaften nach einer dauerhaften Verliebtheitsphase gestrebt wird. Die Schmetterlinge am Anfang, die verliebten Blicke, das Prickeln bei jedem Kuss – all das soll möglichst für immer so sein. Dann aber trifft einen die Realität wie ein Schlag: Der erste Streit, Türen knallen, Konflikte dringen in die Partnerschaft ein. Jetzt wird die Beziehung zum ersten Mal infrage gestellt. Warum ist es nicht mehr so wie am ersten Tag? Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Wer sich am Ende der Verliebtheitsphase trennt, ist einem Irrtum erlegen. Auch in der neuen Beziehung beginnt derselbe Prozess. Verliebt, Schmetterlinge, zarte Küsse und ist er wieder da – der erste Streit. Diesen Wechsel zwischen den Partnern kann man ewig betreiben, ohne jemals den Partner fürs Leben zu finden. Nach der Idealisierung des Partners folgt immer die Realität. Nur wer das erkennt und sich dieser Erkenntnis stellt, kann einen nächsten Schritt in Richtung einer dauerhaften, festen Partnerschaft gehen.
Nähe und Distanz: das Kernproblem in einer Partnerschaft
Kennen Sie auch dieses eine Paar im Freundes- und Bekanntenkreis, das behauptet, jede Sekunde des Tages gerne mit dem anderen zu verbringen und weder eigene Freunde noch eigene Hobbys zu haben?
Ich behaupte, dass die meisten Partnerschaften auf Dauer so nicht gelingen, denn eine Partnerschaft lebt vom Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Ich möchte aber auch bemerken, dass es nicht unmöglich ist. Es gibt tatsächlich Paare, die eine symbiotische Liebesbeziehung leben. Wenn BEIDE dies wollen, ist es natürlich ok. Hier möchte ich aber die Frage in den Raum stellen: „Sind das nicht in Wirklichkeit zwei ängstliche Menschen, die sich ständig unter Beobachtung haben wollen? Es ist nun mal Fakt: Wer alles miteinander macht, weiß auch immer, was der andere tut. Die meisten Paare können und wollen keine symbiotische Beziehung führen. Es braucht den Wechsel, es braucht die Dualität.
Zeiten der Leidenschaft, die auch von dem Gefühl geprägt sein dürfen, jede Sekunde mit dem anderen verbringen zu wollen, folgen zwangsläufig auch Phasen der Abgrenzung und der Distanz. Wer drei Tage mit dem Partner kuschelnd im Bett verbringt, möchte spätestens am vierten Tag mal wieder einen anderen Menschen sehen. Jetzt kommt es darauf an, wie der Wunsch nach Distanz vom anderen bewertet wird. Empfindet auch er die Sehnsucht, mal wieder einen Abend mit Freunden zu verbringen, oder wertet er den Distanzwunsch des Gegenübers als Ablehnung und persönliche Kränkung?
Meist gilt die Regel: Nähe schafft Distanz, Distanz schafft Nähe
Die Geschlechter reagieren oftmals unterschiedlich auf den Rückzug des anderen. Frauen distanzieren sich häufig durch sexuelle Verweigerung, Männer bleiben länger im Büro oder verbringen mehr Zeit mit ihrem Hobby. Oft entsteht daraus ein Machtkampf, in dem die Grenzen abgesteckt werden und sich jeder den Raum nimmt, den er benötigt. Werden daraufhin die gemeinsamen Räume kleiner und der Rückzug in die eigenen Räume immer größer, folgt daraus meistens die Trennung oder man arrangiert sich eben. Im ungünstigen Fall ergibt sich eine Beziehung, die von Kämpfen und persönlichen Verletzungen geprägt ist.
Damit eine Beziehung die Nähe-Distanz-Problematik aushalten kann, ist es wichtig, dass beide Partner akzeptieren, dass Konflikte zu einer Partnerschaft dazugehören und ein wichtiger Teil der Weiterentwicklung ist. Beide sind hier gefragt, herauszufinden, welchen Anteil sie jeweils am Konflikt haben und wie sie dazu beitragen können, ihn zu lösen. Die Akzeptanz von Konflikten befreit die Beziehung von dem Druck, dass alles perfekt sein muss. Es geht nicht darum, sie unter allen Umständen zu vermeiden, sondern sie in Lernmomente zu verwandeln, an der jeder einzelne und die Partnerschaft wächst.
Ich oder der andere? Die Suche nach dem Schuldigen.
In den meisten Fällen sehen wir im Partner den Grund und den Auslöser für einen Konflikt. Schließlich hat er uns die Verletzungen zugefügt. Wir spüren einen Schmerz, an dem vermeintlich der andere schuld ist. Tatsächlich stammt dieser Schmerz in den meisten Fällen aus anderen Konflikten. Vielleicht wurden wir schon einmal betrogen, als der Partner sagte, er müsse länger arbeiten. Wir projizieren diese Situation auf die neue Beziehung und vermuten jedes Mal einen erneuten Betrug, wenn ein Geschäftstermin länger dauert.
Worin liegt nun der Schlüssel, das Paradoxon der Liebe zu überwinden?
Den Partner nicht als Mittel zum Zweck zu nehmen, sich selbst zu vervollständigen. Das Gegenüber nicht zu idealisieren, sondern zu akzeptieren, dass es Fehler hat. Und vor allem, in Konflikten zuerst den eigenen Anteil zu sehen und nicht einen Angriff auf die eigene Persönlichkeit vermuten.
Einen Menschen zu lieben heißt:
- Ihn zu lieben, wie er ist, wie er sein will, indem zu unterstützen, was er will. [1]
- Sich gegenseitige Freiheit und damit Vertrauen zu schenken.
Genau darin liegt der Schlüssel, das Paradoxon der Liebe zu überwinden. Den Partner nicht als Mittel zum Zweck zu nehmen, sich selbst zu vervollständigen. Das Gegenüber nicht zu idealisieren, sondern zu akzeptieren, dass es Fehler hat. Und vor allem, in Konflikten zuerst den eigenen Anteil zu sehen und nicht einen Angriff auf die eigene Persönlichkeit vermuten.
[1] Wenn ich etwas für dich will, was du für dich willst, dann liebe ich dich