Warum man nicht über ALLES sprechen sollte und wie man stattdessen effektiv kommuniziert
Ein Trugschluss in der Beziehung?
In vielen Ratgebern und Beziehungsbüchern wird der offene und ehrliche Austausch als Garant für eine glückliche Partnerschaft angepriesen. Doch stimmt das wirklich? Müssen Partner über alles miteinander sprechen, um eine tiefe und erfüllende Beziehung zu führen?
Die Sehnsucht nach Einheit
Die Sehnsucht nach Einheit mit dem Partner ist tief in uns Menschen verwurzelt. Wir wünschen uns, eins zu sein mit unserem geliebten Menschen, alles zu teilen und einander zu verstehen. Diese Sehnsucht ist jedoch eine Illusion, die niemals vollständig erfüllt werden kann.
Die Grenzen der Einheit
Partner sind Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnissen und Persönlichkeiten. Sie werden niemals vollständig miteinander verschmelzen oder alle ihre Gedanken und Gefühle teilen können. Das ist nicht nur unmöglich, sondern auch unerwünscht.
Die Gefahr der Überkommunikation
Zu viel Kommunikation kann in einer Beziehung sogar schädlich sein. Je mehr wir über alles reden, desto größer ist die Gefahr, dass wir Unterschiede und nicht Gemeinsamkeiten betonen. Widersprüche werden hervorgehoben, anstatt akzeptiert zu werden. Das Gefühl des Einsseins wird dadurch gestört.
Die Kunst des Weglassens
Es ist wichtiger, wie wir miteinander reden, als wie viel wir miteinander reden. In Richtung Differenz oder in Richtung Übereinstimmung? Anstatt krampfhaft zu versuchen, Unterschiede auszuräumen, sollten wir lernen, fünf gerade sein zu lassen und einander zu akzeptieren.
Die Bedeutung von Geheimnissen
Liebespartner müssen Geheimnisse voreinander haben. Wenn wir alles vom Partner wüssten, wenn wir seine Gedanken lesen und seine Gefühle fühlen könnten, gäbe es keine Chance für die Liebe. Dann wären wir möglicherweise entsetzt darüber, was im anderen vorgeht.
Geheimnisse in der Partnerschaft
Die meisten Partner haben Geheimnisse voreinander. Dabei ist das Wort „Geheimnis“ oft negativ besetzt, wie ein Gift, das langsam in die Venen kriecht und dort irreparable Schäden anrichtet. Aber sind Geheimnisse tatsächlich so schädlich für eine Partnerschaft? Oder sind Geheimnisse vielleicht auch eine Art Kitt, der eine Beziehung zusammenhält?
Muss man wirklich alles vom anderen wissen?
Als Paarberater kann ich diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Bestünde wirklich in der Realität die Möglichkeit, jede Partikel eines anderen Menschen zu kennen, dann wäre dieser Mensch entzaubert. Eine Partnerschaft benötigt Spannung und Neugierde – und auch Geheimnisse. Auch wenn es jetzt ein „Wir“ gibt, existieren daneben zwei „Ichs“, die für sich stehen und auch Geheimnisse voreinander haben dürfen.
Niemand kann „alles“ vom anderen wissen. Man kann nicht das Leben seines Partners führen und daneben noch sein eigenes. Im Gespräch mit Freunden spricht man gerne Dinge an, die man dem Partner gegenüber nicht erwähnen möchte. Oder würden Sie Ihrem Partner auf den Kopf zusagen, dass Sie gerne mal Sex mit Ihrem Arbeitskollegen / Ihrer Arbeitskollegin haben würden? Sie selbst und auch Ihr Partner existieren als Individuum. Geheimnisse grenzen uns von anderen ab.
Der Eindruck, keine Geheimnisse voreinander zu haben
Eine Beziehung kommt also nicht ohne Geheimnisse aus. Dennoch sollte in der Beziehung nicht der Eindruck entstehen, man würde dem anderen etwas verheimlichen. Auch wenn jeder Beziehungspartner sich seine kleinen Geheimnisse bewahrt, sollte der Eindruck entstehen, keine gravierenden Heimlichkeiten voreinander zu haben. Daraus können dann Nähe, Vertrauen und Geborgenheit wachsen. Der Eindruck, keine Geheimnisse zu haben, entsteht aber nur dann, wenn man sich eben nicht alles sagt. Das ist eine Gratwanderung, denn Geheimnisse bergen auch die Gefahr aufzufliegen.
Geheimnisse wachsen aus der persönlichen Veränderung
Es gibt in jeder Partnerschaft eine unerschöpfliche Quelle an Geheimnissen. Jeder Mensch verändert sich kontinuierlich – persönlich und auch nach außen hin. Dadurch kommt es zu Gefühlen, die dem anderen nicht gleich aufs Tapet geschmiert werden.
Ein Beispiel
Die Frau bekommt einen neuen Arbeitskollegen, der sie scharf anbaggert. Er fährt seine gesamten Flirtkünste auf, um sie zum Essen einzuladen oder sie anderweitig für sich zu begeistern. Die Frau wiederum springt in keiner Form auf diese Versuche an, sondern wehrt sie höflich ab. Jetzt hätte es also keinen Sinn, diese Anmachversuche des Kollegen zu Hause zu offenbaren und damit Unsicherheiten und Eifersucht heraufzubeschwören. Es darf ihr kleines Geheimnis bleiben, das niemandem schadet.
Was muss in einer Partnerschaft unbedingt erzählt werden?
Alle Themen, die beide Partner oder existenziell die Beziehung betreffen, müssen erzählt werden. Dabei geht es sowohl um finanzielle Themen als auch zum Beispiel um gesundheitliche Fragen. Ist einer der Partner in eine Suchterkrankung gerutscht, sollte dieses Thema offen in der Partnerschaft besprochen werden. Auch plötzliche Erwerbslosigkeit oder traumatisierende Erlebnisse dürfen einander nicht verschwiegen werden. Die Faustregel kann hier lauten: Alles, was auch den anderen betrifft, sollte offen kommuniziert werden.
Freiräume und Intimsphäre müssen sein
Sie kennen den Spruch, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Freiräume müssen weiterhin sein, ohne dass sie die Innigkeit und Nähe in der Partnerschaft gefährden. Lassen Sie den geheimnisvollen Wind, der zwischen den Partner
Fazit
Der Ratschlag, über alles miteinander zu sprechen, kann sich als schlechter Tipp erweisen. Es ist wichtiger, die richtige Balance zwischen Offenheit und Geheimnis zu finden. Geheimnisse können die Beziehung spannend und interessant halten, während zu viel Kommunikation das Gefühl des Einsseins stören kann.
Liebe oder Liebesbereitschaft ist die Voraussetzung für die Akzeptanz von Unterschieden und Geheimnissen. Die Liebe lässt sich nicht herbeireden, aber sie kann durch den Versuch, Unterschiede zu beseitigen, vertrieben werden.
Wenn Sie Schwierigkeiten in Ihrer Beziehung haben, zögern Sie nicht, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Titel: Ratgeber-Irrtum: Über ALLES miteinander zu sprechen
Untertitel: Warum man nicht über ALLES sprechen sollte und wie man stattdessen effektiv kommuniziert